Brief des Kommandanten an den Oberbürgermeister der Stadt Hameln

Abschrift des Originals

Infanterie - Regiment 74 Reninghe an der Yser, den 31.5.1940

K o m m a n d e u r

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister!

Heute sind 3 Wochen vergangen, seit dem historischen 10. Mai, an dem der Führer den Krieg im Westen begann. Unser Regiment hat die letzten 3 Wochen immer in vorderster Linie gestanden. Tag und Nacht - Kämpfe und Märsche! Ich sandte Ihnen schon einen Regiments-Befehl von mir zur vorläufigen Unterrichtung. Gestern haben wir den letzten Feind vor uns, Engländer, vernichtet. Nun sind wir herausgezogen, sollen in Ruhe kommen. Ich will die kurze Ruhezeit benutzen, um Ihnen, unserer lieben Garnisonstadt und den alten Kameraden unserer Traditionsregimenter kurz in Stichworten von Aufgaben und Leistungen des jungen J.R.74 zu berichten.
Ich muss vorausschicken, dass unserem Regiment von Anfang an die stolze Aufgabe zugedacht war, als Sturmkeil vor der 19.Division herzuziehen und jeden Widerstand mit aller zusammengefassten Kraft und größter Schnelligkeit zu brechen, damit der Feind gar nicht zur Besinnung, zur Organisation neuen Widerstandes kommen konnte. Dazu war das Regiment in den letzten Wochen ausgebildet, darauf war jeder Mann eingedrillt. Besonders das II. Bataillon war mit verstärkter 5. und 6.Kompanie als schnelle "Vorausabteilung" um formiert. Seine 1.Aufgabe war, die Stadt Roermond in Holland zu nehmen und den Übergang über die dort stark befestigte Maas zu erzwingen. Dem Regiment waren dazu zahlreiche weitere Truppenteile, die Aufklärungsabteilung 19, Panzerjäger 19, eine schwere Panzerjägerkompanie, schwere Artillerie, Pioniere usw. unterstellt. Die Kompanien des II.Bataillon waren auf Fahrrädern beweglich gemacht. Die zahlreichen Sperren und Befestigungen in Holland waren bekannt, ihre Überwindung in mehreren Planspielen und Übungen vorbereitet.
Wir lagen in der ersten Maiwoche friedlich an der holländischen Grenze. Das Warten war uns freilich schon reichlich lang geworden, aber - der Führer würde schon den richtigen Zeitpunkt, wie immer, zu finden wissen!
Am 8./9.Mai hatten wir eine große Divisionsübung. Sie schloss am 9.Mai gegen 13 Uhr mit der Besprechung durch den Kommandierenden General des XI. Armeekorps, Generalleutnant von Kortzfleisch. Während der Besprechung wird der General plötzlich unterbrochen. Ein Adjutant kommt und reicht ihm einen Zettel. Ruhig hält der General seine Besprechung zu Ende. Dann aber strafft sich seine Gestalt. Er tritt einen Schritt vor und sagt:
"Meine Herren, soeben ist der Befehl eingetroffen, morgen früh gehts gegen den Feind!"
Eilig wird nun zurückmarschiert und gepackt, alle Müdigkeit von der zweitägigen Übung ist vergessen. Um Mittermacht steht das ganze verstärkte Regiment zum Vormarsch bereit.

10. Mai. Um 1 Uhr trifft das verabredete Stichwort ein. Die Würfel sind gefallen. Es geht los. Wie ein Uhrwerk läuft nun alles ab - so oft vorgeübt! Die Vorausabteilungen, dahinter I. und III. Bataillon, die Artillerie stellen sich im Elmpter Wald bereit. Die Nacht ist sternenklar und windstill. Um 2.30 Uhr sind Feindwerts mehrere gewaltige Detonationen zu hören. Die Holländer sprengen also doch Ihre Brücken und Straßen. Uns soll es nicht aufhalten.
5.35 Uhr - Der große Augenblick ist da. Die Vorausabteilungen überscheiten die Grenze. Vier Vorausabteilungen unterstehen dem Regiment. Zwei sind von der Aufklärungsabteilung 19 gebildet, die 3.unter Oberleutnant H i p p 1 e r von unserer verstärkten 5.Kompanie. Die 4. unter Oberleutnant L o j e w s k i von der verstärkten 6.Kompanie. Sie rasen nun auf verschiedenen Wegen vor. Alle haben das gleiche Ziel, die Maasbrücken von Roermond. Unterwegs Betonsperren mit Eisenschienen an den Straßen, Baumsperren - herrliche alte Alleen sind umgelegt, um uns aufzuhalten. Aber die gewandten Radfahrer finden schnell eine Umgehungsmöglichkeit, Pioniere räumen die Sperren in kürzester Zeit von der Straße. Der Widerstand ist schwach, die feindlichen Grenzwachleute und Nachhuten ergeben sich oder weichen zurück. Bis Roermond wird nur 1 Feldwebel verwundet, der in Maasniel von feindlichen Kradschützen angeschossen wird. Erst an der Maas ist der Widerstand stärker. Auf dem Westufer hat der Feind stark betonierte Bunker, M.G.Nester und ausgebaute Feldstellungen, davor Drahthindernisse und die 120 m breite Maas. Die Brücken sind alle gesprengt.
Und nun vollzieht sich planmäßig, wie so oft eingedrillt, der Einsatz der schweren Waffen zur Bunkerbekämpfung, der Aufmarsch unserer Artillerie und das Heranbringen des Übersetzmaterials, der Floßsäcke. Besonders bewähren sich die 8,8 cm Geschütze der schweren Panzerjägerkompanie. Bunker auf Bunker wird mit jedem Schuss in kürzester Frist vernichtet. Schrecklich die Wirkung auf den Feind. Unter dem Feuerschutz unserer Infanteriegeschütze, M.G.s und der Artillerie beginnt schon 9.15 Uhr das Übersetzen. Zwar wird ein Floßsack dabei von einem nicht vorher erkannten Bunker zerschossen, einige Schützen der 5.Kp. ertrinken dabei. Aber sonst gelingt der Übergang überall. 9.30 Uhr ist ein Brückenkopf westlich der Maas gebildet. Fähren werden gebaut. Mit größter Schnelligkeit setzt das ganze Regiment über die Maas. Die Verluste sind gering.
Und wie in Polen merken wir dabei zum 1.Mal, dass unsere Luftwaffe auch im Westen ganze Arbeit getan hat. Kein feindlicher Flieger stört uns, greift die Ansammlungen an der Übersetzstelle an, wo nun der Brückenbau beginnt. Ein einziger feindlicher Flieger kommt in die Nähe, dreht aber in unserem Flakfeuer sofort wieder ab.
So wurde die erste ausgebaute, starke holländische Verteidigungslinie an der Maas vom Regiment in knapp 2 1/2 Stunden - uns selbst ein Wunder - durchbrochen.
Ohne Aufenthalt jagen nun die Vorausabteilungen weiter. Auch an der Eisenbahnbrücke nördlich Roermond ist der Aufklärungsabteilung der Übergang geglückt. Hier folgt unser III.Btl. über Buggenumm nach, während das I.Btl. bei Roermond selbst dem II.Btl. folgt. In der Mittagszeit kommen unsere Vorausabteilungen an den 2.Kanal. Auch hier ausgebaute, besetzte Bunker, gesprengte Brücken. Die 5.Kompanie überrumpelt die ersten beiden Bunker und nimmt die überraschte Besatzung gefangen. Eine Brücke bei Panheel ist so schlecht gesprengt, dass Fahrzeuge noch hinüberkönnen. Sie wird sofort ausgenutzt. Der Maastrichtzipfel ist nun durchquert, wir stehen an der belgischen Grenze. Hier sollen starke Befestigungen bei Molenbeersel und Kinroy sein. Nach kurzem Aufenthalt, der nötig ist, um die bei dem schnellen Vormarsch nach der Tiefe stark gestaffelten Verbände etwas auflaufen zu lassen, wird die Grenze überschritten. Wir finden die belgischen Befestigungen, Sprengungen und Sperren, viel stärker als in Holland, aber unverteidigt, verlassen. Immerhin ist das Zurechtfinden schwer. Umwege müssen gemacht werden. Aber bis zum Abend sind die Befestigungen in unserer Hand. Wir verbringen die Nacht mit den Vorausabteilungen in Molenbeersel und südlich I. und III. Bataillon schließen auf. Die Artillerie kommt nach.

11.Mai. Früh geht es weiter. Die Erkundung hat westlich Molenbeersel weitere starke Sperren und unwegsames Gelände ergeben. Wir holen deshalb nördlich noch einmal durch holländisches Gebiet über Stramproy aus. Schon zwischen 8 und 9 Uhr ist der Maas-Schelde-Kanal bei Bocholt erreicht. Auch hier sind die Brücken gesprengt. Der Kanal ist aber nicht verteidigt. Jetzt fehlen uns aber Pioniere, die noch hinten an der Maas eingesetzt sind und dort Brücken bauen. Also helfen wir uns selbst. Kähne werden herangeholt. Oberleutnant L i e b i s c h richtet mit seiner 13.Kp. sogar 5 - 6 große Schlepper so her, dass alle unsere Fahrzeuge hinüberkönnen. Die Vorausabteilungen jagen weiter. Das 3.große Wasserhindernis ist überwunden. Der Vormarschweg geht über Grand Brogel, Peer, Hechtel an den größten belgischen Truppenübungsplatz Beverloo heran. Unterwegs erreicht uns die Nachricht, dass Holland und Belgien den Krieg erklärt haben. Umso besser für uns, so liegen die Verhältnisse klarer und wir brauchen keine störenden Rücksichten mehr zu nehmen. Die Bevölkerung ist zum großen Teil geflüchtet. Wir bleiben jedoch nachts vorsichtshalber mit der vorderen Linie an der großen Straße Hechtel - Helchteren liegen, um nicht ohne Artillerieschutz den belgischen Übungsplatz zu überschreiten. In der Nacht kommen die rückwärtigen Bataillone und die Artillerie nach.

l2.Mai. Um 6 Uhr geht es weiter. Vormarsch nach Bourg Leopold. Kein Feind. Aber nun nähern wir uns dem berüchtigten Albert-Kanal. Er gilt als Hauptverteidigungsstellung der Belgier. Wir aktiven Offiziere kennen seine Stärke aus Planspielen und Bildberichten. Das westliche Ufer ist überhöhend angelegt. Bunker und Feldstellungen sichern den Kanal. Das Ostufer, wo wir heran müssen ist glacisartig ausgezogen. II.Bataillon unter Hauptmann S c h o l mit den Vorausabteilungen geht über Beverloo nach Süden vor, um den Kanalabschnitt nördlich Beeringen anzugreifen. 1.Bataillon unter Oberstleutnant R o h l f s wird über Oostham, Quaedmenhelen gegen die Stelle angesetzt, wo der Albert-Kanal auf Antwerpen zurückbiegt und von Norden her ein Nebenkanal, der Wasserweg von Turnhout nach Hasselt in den Albertkanal mündet. Beim Herangehen hier wehrt sich der Feind. Der Albert-Kanal und der Turnhoutkanal sind besetzt und verteidigt. Die ganze Division marschiert auf. Links neben uns wird J.R.59 auf Beeringen angesetzt. Es gibt Verluste durch Artilleriefeuer bei beiden vorderen Bataillonen. Trotzdem geht es sofort an die planmäßige Bunkerbekämpfung heran. Regiments-Gefechtsstand bleibt in Oostham. Nach am Abend erringt I.Bataillon seinen ersten großen Erfolg, nachdem bis dahin II.Bataillon alle Lorbeeren allein geerntet hatte. Es gelingt dem I.Bataillon über den Turnhoutkanal zu setzen, anschließend nach Süden einzudrehen und auch über den Albert-Kanal vorzustoßen. Die Oberleutnante War n e c k e , 1.Kp. und Friedrichs, 4.Kp., zeichnen sich dabei besonders aus. In schneidigem Vorstoß wird die ganze feindliche Kanalstellung vor dem II. Bataillon bis Pael aufgerollt, zahlreiche Gefangene werden eingebracht. Da kommt der Befehl, das I.Bataillon zurückzunehmen. Schweren Herzens wird der errungene Erfolg aufgegeben und das Bataillon zurückgeholt. II.Bataillon hat unterdessen unmittelbar am Kanal in planmäßiger Arbeit mehrere Bunker auf beiden Ufern des Albertkanals nördlich Beeringen geknackt und somit eine Bresche in die feindliche Kanalstellung gebrochen. Das war unser Pfingstsonntag!

13.Mai. Nach Einsatz der Artillerie soll der planmäßige Angriff der Division gegen die Albertkanalstellung zusammen mit J.R.59 durchgeführt werden. Es stellt sich heraus, dass der Feind vom I.Bataillon die Lücke wieder geschlossen hat und die gestrige Übergangsstellung verteidigt. I.Bataillon sucht sich daher eine neue, etwas weiter südlich gelegene Übergangsstelle. Dem II.Bataillon gelingt der Angriff durch die in der Nacht geschlagene Bresche. Rasch stoßen die Vorausabteilungen vor. Groß, unfassbar ist der Erfolg. Dem schneidigen Zupacken des Oberleutnant H i p p l e r ist es zu danken, dass fast 2 geschlossene belgische Bataillone, 1500 - 2000 Mann, als Gefangene eingebracht werden. I.Bataillion hat es heute schwerer als am Vortage, aber auch im gelingt es, einen starken Brückenkopf zu bilden und zu halten. Leider fällt dabei Leutnant Dr. M ü l l e r , 3.Kp.
Das Regiment verlegt nun den Schwerpunkt nach Süden zum II.Bataillon. Zwar kommt J.R.59 bei Beeringen anfangs nicht über den Kanal. Aber in der tiefen Bresche des II./J.R.74 über Pael wird vom Regiment das III.Bataillon nachgezogen und nun mit beiden Bataillonen in Richtung auf Diest vorgestoßen, ohne Rücksicht auf die nicht mit kommenden Nachbarn. Hierbei ereignen sich manche ernste Tragikkomödien. Der Kompanieführer der 9.Kompanie, Oberleutnant W i l m s c h e n , fährt mit den Radfahrern des III.Bataillon vor. Er fährt mit seinen 40 Radfahrern in eine stark befestigte und besetzte Stellung hinein, wird mit der Spitze umzingelt und gefangen genommen, die andern kommen unter Verlusten zurück. Ein Melder, der von Oberleutnant Wilmschen zurückgeschickt wurde, sah sich plötzlich von 2 feindlichen Kampfwagen gestellt. Er muss sich gefangen geben und einsteigen. Im nächsten Dorf treffen sie auf Leute unseres II.Bataillon, die sofort die Kampfwagen angreifen. Der Melder überredet die Besatzung seines Kampfwagens, doch ein Taschentuch herauszuhalten und sich zu ergeben. So fallen 2 Kampfwagen unversehrt in unsere Hand. Sie werden sofort in Benutzung genommen und müssen Infanteriegeschütze und Munition, deren Protzen noch nicht über den Albert-Kanal können, ehe die Brücke fertig ist, nach vorn fahren.
Das II.Bataillon erreicht an diesem Tage Schassen und den Flugplatz der alten Festung Diest. Hier standen noch einige feindliche Flugzeuge, zum Teil unversehrt und startfertig. Sie werden sofort unter Feuer genommen und durch unsere Pak zerstört. III.Bataillon muss bei dem tiefen Vorstoß die offene rechte Flanke decken. Links kommt allmählich J.R.59 nach.

14.Mai. Im Morgengrauen geht es weiter. Der Feind ist in der Nacht ausgewichen. Die alte Festung Diest wird vom III./J. R.59 besetzt und die deutsche Reichskriegsflagge auf der Zitadelle gehisst. J.R.74 geht nördlich an Diest vorbei. Es gelingt, die Brücke über die Demer bei Sichem unversehrt in die Hand zu bekommen. Das II.Bataillon als schnelles Radfahrbataillon ist wieder vorn. Nach kurzem Aufenthalt geht es vorwärts, zunächst bis in Gegend Rillaer.
Dort soll das Regiment erst aufmarschieren, um dann planmäßig an die Dylestellung nördlich Löwen heranzugehen. Die Erkundung hierfür wird befohlen. Aber noch ehe sie durchgeführt ist, trifft neuer Befehl ein. Die Dylestellung soll nach Fliegermeldungen unbesetzt sein. J.R.74 soll mit den Vorausabteilungen sofort über Aerschot, Löwen auf Brüssel vorstoßen. Noch in den Abendstunden kommt der Vormarsch in Schwung. Die Vorausabteilungen und alles, was in der Division motorisiert ist, jagen unter Führung des J.R.74 vor. Der Weg geht über Aerschot, das anscheinend durch Fliegerbomben völlig zerstört ist, Wesemahl und Putkapel auf Löwen. Das letzte Ende von Putkapel an, führt der Weg quer vor der feindlichen Dylestellung entlang. Dabei stellt sich bald heraus, dass diese doch besetzt ist. Es gibt heftiges Feuer, besonders Artilleriefeuer. Wie sich später herausstellt, liegt uns das 1.englische Garderegiment gegenüber. Die 5. und 6.Kp. greifen an. Sehr bald müssen wir aber erkennen, dass wir im Handstreich weder nach Löwen, noch über die Dylestellung kommen. Der Angriff hier wird schwer werden und muss planmäßig nach Artillerievorbereitung durchgeführt werden. In Putkapel hat das II.Btl. unter dem Artilleriefeuer ziemlich zu leiden. Auch der Regiments-Gefechtsstand wird schwer beschossen. Es ist nötig, das Nachkommen der anderen Bataillone abzuwarten.

15.Mai. In der Nacht kommen diese heran. Inder frühe des 15.5. wird der Angriff fortgesetzt. III.Bataillon wird rechts neben II.Bataillon eingesetzt. Die Front wird nun nach Westen genommen. Die Trennungslinie beider Bataillone schneidet die Dylestellung an der zerstörten Eisenbahnbrücke der Strecke Löwen - Winxele. Zunächst soll ein Brückenkopf auf dem Westufer geschaffen werden. Die Abwehr der Engländer ist aber so stark, dass niemand an das Ufer des Dylekanals heran kann. Schließlich gelingt es aber den beiden Kompanie - Führern der 6. und 11.Kp. , Oberleutnant L o j e w s k i und Hauptmann Dr. W i e d e m a n n doch Fuß auf dem Westufer zu fassen. Ein kleiner Brückenkopf wird am Nachmittag geschaffen. Beobachter der schweren Waffen folgen. Dabei findet Leutnant H e i n r i c h s , 13.Kp., den Heldentod. Die Engländer wehren sich zäh, ja sie schreiten zum Gegenstoß gegen den Brückenkopf. Er muss wieder aufgegeben werden, Schwimmend verlässt als letzter Hauptmann Dr. Wiedemann das geräumte Westufer. Nun bleibt nichts übrig, als einen neuen planmäßigen Angriff nach starker Artillerievorbereitung neu aufzubauen. In der Nacht soll I.Batl. das stark ermüdete II.Bataillon ablösen, um am 16.5. mit III. und I.Bataillon in vorderer Linie diesen Angriff zu führen. Auch der Regiments-Gefechtsstand wird nach Gegend südwestlich Holsbeek verlegt. Am Abend fällt noch Leutnant E i b l , l0.Kp., im Artilleriefeuer.

16. Mai. Die Ablösung ist in der Nacht reibungslos durchgeführt. Eine starke Artillerie ist aufmarschiert. Von ihren B.-stellen kann das ganze Gelände westlich des Kanals eingesehen werden. Der Rösselberg, eine kahle überragende Höhe vor dem I.Bataillon ist der Schlüsselpunkt der feindlichen Stellung. Auf ihn konzentriert sich unser Artilleriefeuer. Aber der Feind wehrt sich. III. und I. Bataillon haben schwer unter seinem Abwehrfeuer zu leiden. Leutnant K r a m m , l0.Kp., fällt. Der ganze Tag wird noch für den Aufmarsch unserer Artillerie gebraucht. 36 Batterien werden allein den Angriff der 19. Division unterstützen, auch Sturzkampfflieger werden sich beteiligen. Das Vorbringen des Übersetzgeräts macht große Schwierigkeiten. Die Pioniere müssen erst den Weg unter 2 gesprengten Eisenbahnbrücken hindurch durch weitere Sprengungen freimachen. Der Feind schießt zeitweise mit Gasgranaten dorthin. Es handelt sich aber nur um Tränengas.

17. Mai. Um 6 Uhr früh beginnt der gewaltige Feuerschlag der Artillerie. Es ist ein herrlicher Maientag. Als um 8 Uhr der Angriff über die Dyle beginnt, schießt leider eine eigene Batterie zu kurz auf dem Ostufer ins I.Bataillon hinein, das dadurch erhebliche Verluste hat. Gewaltig ist der Eindruck unserer Stukas, die Bombe auf Bombe in den Feind werfen. Der Übergang gelingt bei beiden Bataillonen. Mit der vordersten Linie erreicht der Divisions-Kommandeur, General von Knobelsdorff den Rösselberg und beglückwünscht oben den Regiments-Kommandeur zu dem eben errungenen Sieg. Nun gibt es keine Ruhe. Dem weichenden Feind muss auf den Fersen geblieben werden. Bald ist das 1.Ziel, die Straße Velthem - Beisem - Doven Berg erreicht. Hier kann der Regiments-Kommandeur dem Oberbefehlshaber der Armee, Generaloberst von Reichenau, der plötzlich in vorderster Linie erscheint, den Sieg des Regiments melden Die 19.Division erhält Befehl nördlich an Brüssel vorbei vorzustoßen. Zur Verfolgung wird das schnelle II.Bataillon auf Fahrrädern vorgezogen und über Steen - Okkerseel, wo ein schönes Schloss der ehemaligen Kaiserin Zita, jetzt Divisions-Gefechtsstand wird, nach Vilvoorde angesetzt. Hier stehen wir vor einem neuen Wasserhindernis, dem Willebroekanal. Die Brücke ist gesprengt. Der Feind hat das Westufer besetzt und schießt heftig in die Stadt Vilvoorde hinein. II.Bataillon muss sich für heute damit begnügen, die Vorbereitungen für den Übergang am nächsten Morgen zu treffen. Das übrige Regiment wird nachgezogen und marschiert, von einem feindlichen Flieger ohne Erfolg mit M.G. beschossen, nach Melsbroek.

18.Mai. Früh hat der Feind das Westufer geräumt. II.Bataillon setzt über und tritt zur Verfolgung an. Eine Brücke wird gebaut, über die das übrige Regiment am Vormittag nachfolgen kann. Und nun gibt es einen schnellen Vormarsch. Nur II.Bataillon hat an diesem Tag zu kämpfen. Bei dem Städtchen Assche macht der Feind einen Gegenstoß mit Panzerwagen und Infanterie. Aber das Erscheinen von feindlichen Panzerwagen ist für unsere 74er kein Schrecken mehr. Es erweckt nur ihr Jagdfieber. Unsere Paks sind ja so überlegen. Schon jagt Oberfeldwebel L a s k e , 14.Kp., mit seinen Geschützen heran und schießt persönlich einige Kampfwagen ab. Nur Oberleutnant L o j e w s k i , der tapfere Führer der 6.Kompanie, hat Pech. Er wagt sich auf einem Krad etwas zu weit vor und sieht sich plötzlich von feindlichen Kampfwagen umstellt und mehrere Pistolen auf sich gerichtet. Er muss abschnallen und seine Maschinenpistole herausgeben. Aber als Gefangenen können ihn die Engländer nicht mitnehmen, weil in ihren Kampfwagen kein Platz ist. So lassen sie ihn stehen und fahren ab. Nur eine Sekunde besinnt sich Oberleutnant Lojewski. Dann rennt er zurück, holt Paks und Kräder heran und rast den Engländern nach. Es gelingt ihm, sie einzuholen. Nun ist die Lage umgekehrt. Der hünenhafte englische Major muss sich mit seinen Leuten und Kampfwagen ergeben. Auch die 7.Kompanie unter Leutnant S t e i n wird von englischen Kampfwagen angegriffen. Sie hat gerade keine Pak zur Stelle. Deshalb greift sie mit Panzerbüchse und M.G. an, umgeht die Kampfwagen und zwingt sie durch M.G.Feuer, in den nächsten Wald zu flüchten. Dort lassen die Engländer ihre Kampfwagen stehen und fliehen zu Fuß kopflos. 42 englische Kampfwagen teils zerschossen, teils unversehrt werden am nächsten Tag auf dem Schlachtfeld gezählt.
Unterdessen marschiert das übrige Regiment von Vilvoorde über Grimberghen, Meysse, Brusseghem, Assche heran. Hier erhielt es Befehl, bei Asbeek sich für die Nacht zur Verteidigung einzurichten mit Front nach Süden, weil die linke Nachbardivision so schnell nicht mit vorgekommen war. So rückten noch kurz vor Dunkelheit I.Bataillon in Gegend Kwadelbrug, III.Bataillon nördlich Steenstraat in ihre vorher erkundeten Stellungen ein. Rgts.Gef.Stand wurde in Asbeek eingerichtet, wo auch das II.Bataillon zur Verfügung des Regiments verblieb. Kein Feind wurde jedoch in der Verteidigungsstellung gespürt. Fliegermeldungen über Anmarsch einer Feindkolonne aus Südwesten erwiesen sich als unrichtig.

19. Mai. Zum 1.Mal seit Beginn der Operationen wird das Regiment Divisionsreserve. J.R.73 kommt nach vorn. Auch der nächste Abschnitt am Dendrekanal, 7 km südwestlich Asbeek, ist vom Feind geräumt. Der Brückenbau dort nimmt viel Zeit in Anspruch. So hat das Regiment unerwartet einen Ruhetag.

20.Mai. Erst um Mitternacht kommt Marschbefehl. Um 2.30 Uhr tritt das Regiment von Teralphene an. Es wird ein anstrengender Marsch von 45 km. Wir sind letzte Marschgruppe der Division. Das ist kein angenehmes Marschieren mit viel Auflaufen und Halten. Wir marschieren über Denderleeuw, Denderhautem, Essche, Andenhove, Micbelbeke, EIst, Segelssen, Schoorisse nach dem Raum Ruytegaem (III.Btl.) - Kafhoek (I.Btl.) - Marque (II.Btl.) -Hooland (Rgts.Gef.Stand). Die Stimmung ist trotz Hitze und Staub glänzend.
Das vorn befindliche J.R.73 hat unterdessen einen Brückenkopf über den nächsten, noch stark verteidigten Flussabschnitt, die ScheIde erkämpft. Bis spät in die Nacht ist lebhaftes Artillerie-Duell und M.G.Feuer zu hören.

21. Mai. Das Regiment bleibt als Divisionsreserve in Ruhe. Nachmittags 15.45 -16.00 Uhr sollen J.R.73 und 59 nach einem Feuerschlag über die Schelde bei Meersche und Kerkhove angreifen. Der Angriff gelingt jedoch nicht. Bei uns werden durch den Regiments-Kommandeur an die Tapfersten der Vorausabteilungen des II.Bataillon Eiserne Kreuze verteilt.

22.Mai. Die kurze Zeit der Ruhe ist für das Regiment vorbei. Schon 5.30 Uhr erhält der Regiments-Kommandeur bei der Division den Einsatzbefehl. Das Regiment soll unter Ausnutzung des von III./J.R.73 bei Chateau d'Elsegem geschaffenen Brückenkopf bei Tage nördlich Meersche über die Schelde gehen und dann über J.R.73 hinweggehend in westlicher Richtung angreifen und die feindlichen Stellungen nehmen. III.Bataillon rechts, I.Bataillon links werden in vorderster Linie eingesetzt. Übersetzen mit Floßsackgerät wird vorbereitet. 13.Kp. wird als Feuerschutz für den Übergang mit B-stellen bei Meersche eingesetzt. Meersche liegt aber ständig unter heftigem feindlichen Artilleriefeuer. Um 10.45 Uhr marschieren die Bataillone in ihre Bereitstellungsräume ab. Der Angriffsbeginn, anfangs auf 14.30 Uhr festgesetzt, wird auf 17 Uhr verschoben, um ausreichenden Munitionsnachschub der Artillerie vorher noch sicherzustellen. Regiments-Gefechtsstand geht 13 Uhr nach Winkeldries. Nach einer Artillerievorbereitung von 20 Minuten Dauer, die gute Wirkung erzielt, greifen III. und I.Bataillon an. Mit rechtem Nachbar J.R.46 besteht enge Verbindung. Bei Angriffsbeginn treten vereinzelt feindliche Panzerwagen auf. Unsere 14.Kompanie kann sich wieder betätigen. Mehrere werden abgeschossen. Die anderen verschwinden im Nebel. Der Angriff gewinnt langsam an Boden. III.Bataillon kommt bis vor eine vom Feind stark ausgebaute Stellung vor Brookstraat. I.Bataillon, das die linke Flanke des III.Bataillon sichern sollte, kommt weniger gut vorwärts. Es erhält heftiges Flankenfeuer von den Höhen bei Caster, weil das Nachbarregiment dort nicht vorwärtsgekommen ist. So kommt der Abend heran und die Lage des Regiments ist schwierig. III.Bataillon hat eine starke Stellung vor sich. Wir sahen später, dass Brockstraat wohl die Schlüsselstellung für den Feind war. Betonierte Brustwehren, Bunker, stark ausgebaute Feldstellungen, alles geschickt angelegt, ermöglichten dem Verteidiger ein langes Halten seiner Stellung, wenn es den Willen dazu aufbrachte und nicht ausgerechnet von Major von P e t e r s d o r f f angegriffen wurde. Der aber ließ nicht locker mit seinem III.Bataillon. Wie einen Keil hatte er seine 10.Kompanie an die feindliche Stellung herangeschoben. Selbst vorn, erkundete er Ziel um Ziel und ließ es durch Granatwerfer oder Artillerie beschießen. Keinen Augenblick ließ er dem Feind zur Ruhe kommen. Und als kurz vor Dunkelheit eine besonders gut liegende Serie von eigenen Granaten in die feindlichen Gräben eingeschlagen hatte, war er mit seinem Bataillon plötzlich auch drin. So wurde dieser Angriff noch am späten Abend ein großer Erfolg. Der wichtigste stärkste Stützpunkt "die Festung Brockstraat" war durch das Regiment aus der feindlichen Stellung herausgebrochen. Damit fielen auch die Nachbarstellungen. Überall kam noch am Abend Bewegung in die vorderen Linien - das dem Regiment befohlene Angriffsziel, die Höhen nordwestlich Gyselbrechteghem, wurden noch von beiden Bataillonen erreicht, die Verbindung mit den Nachbarn hergestellt .Regimentsstab und II.Bataillon blieben im Chateau d'Elsegem, das nachts ohne Erfolg mit einigen Bomben belegt wird. Zahlreiche gefangene Engländer vom 35.Sussex-Regiment werden eingebracht. Sie sind völlig erschöpft und erklären, dem deutschen Artilleriefeuer und dem Angriffsgeist der deutschen Infanterie könne keiner widerstehen! Noch am späten Abend lässt der Kommandierende General dem Regiment seinen Dank und besondere Anerkennung für den errungenen Erfolg aussprechen.

23. Mai. Früh schon setzt überall rege Tätigkeit ein. Die Bataillone treiben Gefechtsaufklärung vor. Gefangene Engländer und Belgier werden eingebracht. Im ganzen aber wird festgestellt, dass der Feind abgezogen ist. Unübersehbare Beute an Waffen und Gerät in den starken Stellungen beweist, dass der Feind kopflos geflohen ist. Im Park von Anseghem werden 2 - 3 10 cm Batterien mit viel Munition erbeutet. Alles deutet auf Panikstimmung beim Feind. Die Verfolgung wird angesetzt. Zum 1.Mal im Westen wird auch der Regiments-Reiterzug vorgeholt und zur Aufklärung angesetzt. Er erhält weite Ziele bis zur Lys und meldet schnell wichtige Aufklärungsergebnisse u.a. eine feuernde feindliche Batterie. Das II. Bataillon, als schnelles Radfahr-Bataillon wird über die anderen Bataillone hinaus vorgeholt, um dem Feind nachzujagen und ihn nicht zur Ruhe kommen zu lassen. Unterwegs staunen wir immer wieder über die großen Lager mit Benzin, Munition, Ausrüstungsstücken, Autos, Geschützen, die der Feind zurückgelassen hat. Der Reiterzug meldet, dass der Feind sich erst hinter der Lys wieder festgesetzt hat und die Brücke in Harlebecke gesprengt ist.
Jetzt legt auch die Artillerie ihre Ehre drein, schnell mit uns an die Lys heranzukommen. Im trabe hält die I./A.R.55 (s.FH.) mit unserem II.Bataillon Schritt. Um 15 Uhr wird Harlebeeke vom II. Bataillon erreicht. Der Feind schießt lebhaft mit Artillerie und Granatwerfern in den Ort hinein. Es gelingt nicht, sofort einen Brückenkopf zu bilden. Leider wird hierbei einer der bewährtesten Kompanieführer, der Führer der 5.Kompanie, Oberleutnant H i p p 1 e r leicht verwundet. Ihm dankt das Regiment neben vielen anderen Erfolgen besonders den Übergang über Maas und Albert-Kanal.
Der Regiments-Gefechtsstand wird um 16 Uhr nach Ferme Matton verlegt, 5 Batterien feuern bis 18 Uhr auf den Feind gegenüber von Harlebeeke. Die Angriffsstreifen werden neu festgelegt. Danach wird Harlebeeke der linken Nachbardivision zugesprochen. Das Regiment soll nördlich anschließen. Ein planmäßiger Übergang wird vorbereitet. III.Bataillon rechts, I.Bataillon links werden dazu von hinten in ihre Abschnitte nördlich Deerlyck hineingeführt. Die Nacht verläuft ruhig.

24. Mai. 6.10 Uhr erfolgt ein gut liegender, heftiger Feuerüberfall feindlicher Artillerie auf den Regiments-Gefechtsstand in Ferme Matton. Mehrere Volltreffer schlagen ein. 4 Mann und einige Pferde werden verwundet. Der Regiments-Gefechtsstand wird darauf 400 m weiter ostwärts verlegt. Der Vormittag geht hin mit Vorbereitungen für den Angriff über die Lys. Angriffsbeginn wird auf 15.40 Uhr festgesetzt. Da der Angriffsstreifen sehr schmal ist werden die Bataillone hintereinander angesetzt, II .Bataillon vorn, dahinter I.Bataillon, dann III.Bataillon.
Der gut vorbereitete Übergang gelingt dem II.Bataillon sofort. Etwa 250 - 300 Gefangene, lauter Belgier ergeben sich. Sie sind sehr erbittert auf die Engländer, die sie im Stich gelassen haben. Die belgische Artillerie aber schießt noch wütendes Sperrfeuer in die Nähe der Übergangsstellen, ohne jedoch viel Schaden anzurichten. Beim weiteren Vorgehen entsteht viel Unordnung dadurch, dass die linke Nachbardivision sich von Harlebeke her hinter das II.Bataillon schiebt und unter Ausnutzung des von diesem gesäuberten Streifens vorgeht, anstatt links im eigenen Gefechtsstreifen anzugreifen. Das erschwert die Regimentsführung und das Nachführen des I. und III.Bataillon. Da auch der rechte Nachbar noch weit abhängt, ergibt sich für den in die vordere Linie geeilten Regiments-Kommandeur das Bild, dass allein das II.Bataillon einen tiefen Keil in die feindliche Stellungen gestoßen hat. Es nähert sich allmählich die großen Chaussee Stokery - Le Chat. Es ist nötig, die beiden Flanken des II.Bataillon zu sichern. Links können dies die Regimenter der 14.Division übernehmen, die aus dem Gefechtsstreifen des Regiments in ihren Nachbarstreifen verwiesen werden. Rechts wird das I.Bataillon (3.KP.) beauftragt, den Flankenschutz zu übernehmen und die verteidigten Häusergruppen von Stokery zu säubern. Regiments-Gefechtsstand geht nach einer Ferme nördlich Abeelhoek, auch III.Bataillon wird über die Lys nachgezogen.
Erst 23.15 Uhr gelingt es, die letzten Häuser an der großen Chaussee in erbittertem Kampf zu nehmen. 60 - 70 Gefangene werden dabei noch eingebracht. Wieder hatte das Regiment einen heißen Tag hinter sich, der zwar einige schmerzliche Verluste gekostet hatte, dessen großer Erfolg für das ganze XI. Korps aber erst am nächsten Tag erkennbar werden sollte. Die Leutnant L ü d e r s , 3.Kp. und P l a w i t z k i , 2.Kp., waren gefallen. Ein Artillerievolltreffer hatte hinten in Deerlyok leider auch schon die Ersatz-Kompanie getroffen, die neuen Ersatz für das Regiment zuführen wollte. Mehrere Tote und Verwundete waren dabei zu beklagen, ehe sie überhaupt das Regiment erreicht hatten. Leider war auch der oft bewährte Kompanieführer der 13.Kompanie, Oberleutnant L i e b i s c h , an diesem Tag verwundet worden.

25. Mai. Stoßtruppunternehmen und Spähtrupps stellen bei Morgengrauen fest, dass der Feind abgebaut hat. 4 Offiziere und 20 Mann ergeben sich noch ohne Kampf. Nur 2 feindliche Batterien feuern noch eifrig. Laut Divisionsbefehl ist für den 25. die Fortsetzung des Angriffs mit J.R.73 rechts, J.R.74 links in vorderer Linie vorgesehen. Da der rechte Nachbar noch nicht so weit ist, hat unser Regiment noch etwas Zeit. Um 9.30 Uhr kommt der Divisions-Kommadeur zum Regiments-Gefechtsstand, zufällig ist auch die Regiments-Musik gerade eingetroffen. Zum Staunen der gefangenen Belgier wird in der malerisch zerschossenen Ferme schnell ein Ständchen inszeniert, während rechts und links in nicht allzu weiter Entfernung noch feindliche Granaten einschlagen. Der vorgesehene Angriff kommt vorläufig nicht zur Ausführung. Zwar werden vom Regiment I.Bataillon rechts, III.Bataillon links in vorderer Linie eingesetzt. Sie stoßen mit Teilen auch bis zur Bahn Roulers - Courtrai vor.
Im übrigen aber kommt ein neuer Befehl, wonach die Division den Angriff einstellen und zur Verteidigung übergehen soll. II.Bataillon erhält daher Befehl, seine in Harlebeke zurückgelassenen Räder nachzuholen. Der Halt scheint notwendig geworden zu sein, weil die Streifen der konzentrisch angreifenden Divisionen allmählich im Feind zu eng werden und höheren Orts ordnend eingegriffen werden muss. Die Bataillone gehen unter Sicherung nach Westen in die Gegend der Chaussee Stokery - Le Chat zur Ruhe über. Auch der Regiments-Gefechtsstand geht nach Strasse, 400 m südwestlich Stokery. Die Regimentsmusik spielt bei allen Bataillonen. Die Ersatzkompanie wird aufgeteilt. Es kommt Befehl, dass J.R.74 vom 26.5. ab Korpsreserve werden soll.

26.Mai. Es ist Sonntag, ein herrlicher Sonnentag. Das ganze Regiment genießt die wohl verdiente Ruhe als Korpsreserve. Sie wird nur einmal dadurch gestört, dass wir eine ganze feindliche Bomberstaffel über uns hinweg fliegen sehen. Das fällt wegen der großen Seltenheit des Anblicks feindlicher Flieger doch auf. Sie lassen uns aber in Ruhe.
Um 14 Uhr aber ist der Traum der Korpsreserve schon ausgeträumt. Wir sind wieder unserer Division unterstellt und erhalten Befehl, uns zum Angriff an der Bahnlinie beiderseits Station Lendelede bereitzustellen. I.Bataillon rechts, III. Bataillon links werden dazu in vorderer Linie eingesetzt und stehen bis 18 Uhr zum Angriff bereit. Der Angriff geht zunächst in Anlehnung an J.R.59 rechts rasch vorwärts. Lendelede wird durchschritten, aber in den verstreuten Gehöften ostwärts Boschmolens und Winkel St. Eloi leistet der Feind zähen Widerstand. Die Straße Boschmolens - Winkel St.Eloi ist das befohlene Angriffsziel. Infolge starker Flankierung durch Artillerie und M.G.Feuer von Norden her geht es nur langsam vorwärts. Das rechte Nachbarregiment wird dadurch ganz nach Norden abgezogen. Aber I. und III.Bataillon lassen nicht locker. Obwohl sich herausstellt, dass der Feind in Häusern und ausgebauten Feldstellungen eingenistet ist, arbeiten Sie sich mit gewohntem Schneid vor. Als es dunkel wird, muss das Regiment leider feststellen, dass zum 1.Mal in diesem Krieg ein befohlenes Angriffsziel vom Regiment nicht ganz erreicht ist. Diese Feststellung löst aber große Empörung bei den Stosstruppführern der eingesetzten Kompanien aus. "Es ist noch lange nicht Mitternacht und wir schaffen es doch noch", ist ihre Antwort auf die Feststellung des Regiments. In der Dunkelheit hinein greifen sie wieder an und um Mitternacht können beide Bataillone wieder einmal melden: "Das befohlene Angriffsziel ist erreicht!"

27. Mai. Nach Hellwerden ist aber doch noch einige Kleinarbeit notwendig. Es sind zu viel Einzelgehöfte, in denen immer wieder Feind auftaucht. 200 Gefangene werden dabei gemacht. Ein Radmelder des I.Bataillon wird hinter der Front von 4 belgischen Soldaten überfallen, angeschossen, mit dem Bajonett gestochen und mit Füssen getreten. Daraufhin wird eine nochmalige Säuberungsaktion ohne Pardon angesetzt .

Höheren Orts besteht offenbar nach Fliegermeldungen das Feindbild, dass der Gegner aufgelöst und in vollem Rückzug ist, denn um 6 Uhr werden dem Kommandeur J.R.74 alle motorisierten und Radfahrerteile der Division unterstellt. Es sind dies das II./J.R.74, II./J.R.59, A.A.19, 1./Pz.Jg.19, 14./Pz.Jg.J.R.74, II./A.R.677 (mot) I.F.H., Auftrag: Verfolgung über Oostnieuwkerke und Inbesitznahme der Höhen von Bergmolens als 1.Angriffsziel. Der Rest des J.R.74 wird durch Oberstleutnant R o h l f s nachgeführte.
Um 11.20 Uhr tritt II./J.R.74 unterstützt von II./AR.677 zum Angriff auf die Höhen westlich Bergmolens an. Sie sind stark vom Feind besetzt. Er feuert auch lebhaft mit Artillerie. II./J.R.59 wird rechts neben II./J.R. 74 eingesetzt. A.A.19 sichert die linke Flanke. Allmählich klärt sich das Feindbild und wir müssen erkennen, dass wir vor einer stark ausgebauten und stark besetzten, durchlaufenden Feldstellung der Belgier stehen. Einsatz stärkerer Artillerie ist daher erforderlich. Der Gefechtsstand des Artillerie-Kommandeur 19, Oberst Z e i s s , und der Regiments-Gefechtsstand J.R.74 werden nebeneinander gelegt, 500 m hinter die vordere Linie. Die Gefechtsstände werden hier freilich erheblich von der feindlichen Artillerie eingedeckt.
In der vordersten Linie fiel zu dieser Zeit der Kompanie-Führer 6.Kompanie, Oberleutnant L o j e w s k i, durch eine Gewehrgranate. Der Tod dieses Helden ist der schwerste Verlust des Regiments bisher. An allen Erfolgen des Regiments hat er erheblichen Anteil. Eine Draufgängernatur von unbändigem Angriffsgeist, ein unersetzlicher, vorbildlicher Kompanie-Führer wurde uns mit ihm entrissen.

Um 19 Uhr soll der Angriff nach einheitlicher Artillerievorbereitung erneut fortgesetzt werden. Es gelingt jedoch nicht, eine einheitliche Artillerievorbereitung bis zu dieser Zeit in Gang zu bringen. Der Angriff unterbleibt daher. Auch feuert immer noch lebhaft feindliche Artillerie. Der Angriff wird deshalb auch am nächsten Tag unter Einsatz von stärkeren Kräften nicht einfach sein.
Für die Nacht wird nun Einrichten zur Verteidigung befohlen. Der Regiments-Gefechtsstand wird nach De Vinke zurückverlegt.

28.Mai. Um 2 Uhr trifft Befehl ein, dass das Regiment auf Winkel St.Eloi zurückgezogen werden soll, um nach Norden neu eingesetzt zu werden. Gerade hat das II.Bataillon begonnen, sich mit Teilen vom Feinde zu lösen, da trifft 4.30 Uhr die Nachricht ein, dass die gegenüberliegende belgische Armee um Waffenruhe gebeten hat und ab 5 Uhr nicht mehr geschossen werden darf. Mit einem Schlag ist alle Müdigkeit weg. Das ist Sieg! Nun bleibt auch II.Bataillon noch vorn liegen und geht dort zur Ruhe über. Der um 2 Uhr eingegangene Befehl ist ungültig. Freude und Siegesjubel herrscht überall, bei den Führern verbunden mit dem Gefühl der Erleichterung, dass der schwere bevorstehende Angriff nun nicht mehr durchgeführt zu werden braucht. Die Truppe aber sinkt überall, übermüdet von den schlaflosen Nächten, in tiefen Schlaf. Unterdessen finden Übergabeverhandlungen zwischen den belgischen und deutschen Generalkommandos statt.
Gegen l3 Uhr trifft der Befehl zum Weitermarsch ein. Die belgische Armee wird uns die Straßen freimachen, damit wir die Reste der Engländer und Franzosen an der Küste fassen können. Ununterbrochen braust eine Staffel Stukas nach der anderen über uns hinweg an die Küste. Bei uns dagegen ist Frieden. Kein Schuss fällt. Es stellt sich heraus, dass uns gegenüber noch 2 ziemlich intakte belgische Korps gestanden haben. Um 14.30 Uhr tritt das Regiment an, voraus das II.Bataillon. Der Weg geht über Bergmolens -Le Cavalier - De Ruiter - Westroosebeeke - Poelkapelle nach Langemarck -Bixschoote. Wie anders und eigenartig ist nun das Bild!
Zunächst geht der Weg an der geräumten belgischen Stellung entlang. Überall liegen noch belgische Soldaten in voller Ausrüstung. Ihre Geschütze sehen wir stehen. Die Waffen liegen zusammengeworfen, ganze belgische Marschkolonnen stehen aufgeschlossen. An machen Stellen aber sehen wir auch, was wir so oft im Wehrmachtsbericht lasen: "Unsere Flieger griffen die rückwärtigen Verbindungen des Feindes an".
Und nun nähern wir uns heiligem Boden. Erst Poelkappelle, dann Langemarck! Friedhof auf Friedhof taucht auf. Tausend und Abertausend Kreuze auf den Gräbern! Hier starb vor 25 Jahren die Auslese aus der deutschen Jugend mit dem Deutschlandlied auf dem Lippen - umsonst?! Nein, wir junges Deutschland, das Deutschland Adolf Hitlers melden euch Toten: Ihr seid nicht umsonst gefallen, Flanderns Boden bis zur Küste ist frei von Engländern und in deutscher Hand.
Um 19 Uhr erreicht das II.Bataillon Bixschoote und stellt fest, dass das Westufer der Yser von schwachem Feind besetzt ist und die Brücken gesprengt sind. Also, die letzten Reste der Engländer sind vor uns. 2 feindliche Batterien schießen sich ein. Das Regiment geht zur Ruhe über, während II.Bataillon vorne sichert. Regiments-Gefechtsstand in Langemarck, wo die Deutsche Reichskriegsflagge auf dem Ehrenmal weht, I.Bataillon nördlich Langemarck, III.Bataillon südlich Mangelaix. Der Angriff über die Yser muss planmäßig vorbereitet werden.

29.Mai. Eine rege Erkundungstätigkeit setzt überall ein. Vom Kirchturm Bixschoote aus sieht man weit ins Land. Klar erkennt man den Kemmel. Ypern liegt im Qualm einschlagender Granaten. Aber an der Yser ist es ruhig. Der Regiments-Kommandeur wird nicht beschossen, als er im Pkw dort end00langfuhr. Entweder ist der Feind also sehr schwach oder er hat sich zurückgezogen. Das II.Bataillon erhält also sofort den Befehl über die Yser überzusetzen.
I. und III.Bataillon werden herangezogen und sollen folgen. Es kommt darauf an, zunächst schnell einen Brückenkopf zu bilden. Und das Wagnis gelingt. Alle Bataillone kommen hinüber. III. und I.Bataillon sollen in vorderer Linie angreifen. I. Bataillon kann mit Teilen eine Brücke der linken Nachbardivision bei Boesinghe ausnutzen. Um 14 Uhr kann das Regiment melden, dass ein starker Brückenkopf durch III. und I. Bataillon gebildet ist. III.Bataillon hat jedoch unter starker Flankierung von Lizerne und Zuydschoote her zu leiden. Da diese Orte von J.R.59 nicht angegriffen, sondern nur rechts umgangen sind. Der Engländer aber hat sich an diese beiden Ortschaften geklammert. Auch wir können nicht recht weiter, ehe diese Flankenbedrohung nicht beseitigt ist. Gegen 16 Uhr erfolgt sogar ein englischer Gegenstoß aus beiden Ortschaften, der jedoch in unserem M.G.Feuer sofort zusammenbricht.
Es wird 20 Uhr, bis das J.R.59 rechts von uns die beiden Dörfer gesäubert hat. Nun geht es auch bei uns weiter vorwärts. Als es dunkel wird, ruht der Kampf noch nicht. Besonders die 3.Kompanie, die in den letzten Tagen mehrfach in nächtlichen Häuserkampf verwickelt war, muss sich wieder auf diesem Gebiet betätigen. Spät abends wird das Angriffsziel, der Weg Pyphgan - Nordhoek - Woesten erreicht. Regiments-Gefechtsstand bleibt an der Straße Lizerne - Boesinghe.

30. Mai. Der in der Nacht eingehende Divisionsbefehl für die Fortsetzung des Angriffs verschiebt das Regiment etwas nach Norden. Es kann nur noch wenig Feind im engen Sack vor uns sein; denn in Loo und Outkerk sind bereits deutsche Truppen. Die Aufklärung bei Tagesanbruch stellt daher auch fest:
Vor III./74 kein Feind, bei I./74 werden etwa 30 Gefangene eingebracht. Um 8 Uhr beginnt überall der Angriff. Wir finden noch viele englische Lkw - I.Btl. meldete allein 30 - als Beute. Die viele Beute lässt erkennen, dass die Engländer in wilder Flucht versucht haben, ihr nacktes Leben zu retten. Auch werden noch einige Gefangene gemacht, die schlafend in den Häusern angetroffen werden. Ernsteren Kampf gibt es jedoch nicht mehr. Bald wird der Yserkanal erreicht. Wir geben uns dort mit anderen deutschen Truppen die Hand. Um 13 Uhr befiehlt die Division, den Angriff einzustellen und zur Ruhe überzugehen. Kein Feind ist mehr da, kein Schuss fällt mehr. Im Handumdrehen zieht das Regiment in Gehöften südwestlich des Dorfes Resinghe unter und bald liegen alle in tiefem Schlaf. In genau 3 Wochen war die 1. Aufgabe des Regiments erfüllt, Holland und Belgien durchquert, der Feind in fast täglichen schweren Durchbruchskämpfen geschlagen und vernichtet. 12 Flüsse und Kanäle waren vom Regiment überschritten, davon 8, die zur Verteidigung eingerichtet und verteidigt waren. Die Verluste des Regiments sind demgegenüber - so schmerzlich jeder einzelne auch ist - erstaunlich gering, geringer als in Polen. Sie betragen in der Zeit vom 10. -30. Mai:
Gefallen: 7 Offiziere 72 Unteroffiziere u. Mannschaften , Verwundet: 11 0ffiziere 258 Unteroffiziere u. Mannschaften , Vermisst: 1 0ffizier 16 Unteroffiziere u. Mannschaften
Stolz kann das Regiment auf seine Leistungen zurückblicken. Sie haben immer die Anerkennung aller Vorgesetzten gefunden. Der Schwung und der Angriffsgeist war in allen Einheiten des Regiments beispiellos. Die schweren Waffen wetteiferten mit den Schützenkompanien in höchster Einsatzbereitschaft. Immer waren sie vorn zur Stelle.
Der richtige und schnelle Einsatz der schweren Waffen und das frische, schneidige Zupacken der Schützenkompanien aber sind der Grund, weswegen unser Regiment, so große Leistungen mit verhältnismäßig geringen Verlusten erzielen konnte.
Nun ist wieder ein Abschnitt des Krieges für uns zu Ende. Aber Ruhe wird es für uns nicht geben. Denn noch sind Frankreich und England nicht geschlagen. Durch die Vernichtung des holländischen und belgischen Heeres, sowie des englischen Expeditionsheeres und dreier französischer Armeen ist die Voraussetzung für eine, weitere günstige Fortführung unserer militärischen Operationen geschaffen. Wir können von unserem Regiment sagen, dass es durch seine Taten wesentlichen Anteil am errungenen Siege hat.
Wir wissen, dass die Heimat uns dabei treu unterstützt hat. Unsere Grüße gehen deshalb mit diesem kurzen Bericht voll Stolz vom Feld zur Heimat. Wir sehen hier draußen viel Elend, zerstörte Städte und Dörfer, Flüchtlinge, die alles verloren haben, tiefstes menschliches Leid - möchte all das für immer unserer Heimat erspart bleiben.

Dafür kämpfen, dafür siegen wir. Heil Hitler! Oberst Schmidt